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Antwort auf die Neujahrswünsche 2021 des Präsidenten des Walliser Staatsrates, Herrn Christophe Darbellay

Es ist üblich, dass der Bischof von Sitten im Rahmen des Neujahrsempfangs für die zivilen, militärischen, judikativen und religiösen Behörden auf die vom Präsidenten des Hohen Staatsrates formulierten Neujahrswünsche antwortet. Ich tue das gerne. Weil die besonderen Umstände in diesem Jahr uns zwingen voneinander Abstand zu halten, wurden diese Botschaften aufgezeichnet.

 

Herr Präsident des Staatsrates,

Frau Staatsrätin und Herren Staatsräte,

meine Damen und Herren Mitglieder aller Behörden, die für das gute Funktionieren unserer Gesellschaft nötig sind,

meine Damen und Herren, die sie ganz einfach sich selber sind und jetzt diese Botschaft lesen oder hören,

liebe Freunde ….

 

Bevor ich wusste, in welch aussergewöhnlichen Form der Austausch von Neujahrswünschen in diesem Jahr stattfinden wird, habe ich mir vorgenommen einige Begriffe in meiner Botschaft zu vermeiden. Ich wollte Ihre Ohren von einer Musik verschonen, die seit Beginn des Jahres 2020 ständig zu hören ist. Ich habe mir vorgenommen, die folgenden Worte nicht auszusprechen: Pandemie, Virus, COVID-19 und alles was damit zusammenhängt. Und schon habe ich meinen Vorsatz gebrochen, die Worte sind ausgesprochen. Mein Plan war unklug. Wir können unseren Lebensweg nicht gehen, ohne die Umstände, in denen wir leben, zu berücksichtigen. Dazu gehören Ereignisse, mit denen wir konfrontiert sind, die uns beschäftigen und unseren Alltag prägen. Es wäre sinnlos und falsch, die Augen vor dem zu verschliessen, was uns stört und nur das in den Blick zu nehmen, was uns passt. Die Narben an unseren eigenen Leib, aber auch am Leib der Gesellschaft und der Kirche sagen Wichtiges, vielleicht sogar etwas Wesentliches, für unser Leben aus. «Was wären wir ohne unsere Verletzungen?» fragt ein Dichter[1]. Das Jahr 2020 wird noch lange als eine besondere Zeit im Leben der Menschheit in Erinnerung bleiben. Daher danke ich Ihnen, Herr Präsident, dass Sie angesichts der Verletzungen, welche das Jahr 2020 in unserer Gesellschaft verursacht hat, so wichtige Begriffe vorgeschlagen und definiert haben: Solidarität, Teilen, Engagement, Widerstandfähigkeit und Kreativität.

 

Wenn ich auf die Verletzungen zurückkomme, dann deshalb, weil sie eine grosse symbolische Bedeutung haben und weil sie völlig unerwartet ein Fenster zum Geheimnis des Lebens öffnen. Jedes menschliche Leben, auch das Leben eines Christen, ist verbunden mit Verletzungen und Rissen. Nach der Begegnung mit den drei Königen, die die Erscheinung und die Geburt des Herrn krönt, ist es das Gemetzel an den unschuldigen Kindern, das der Menschheit Wunden zugefügt hat, die uns bis heute erschüttern. Bis heute gehören die Menschen am Anfang und am Ende ihres Lebens zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass wir, die wir zwischen Anfang und Ende des Lebens stehen, nicht in einem bequemen «Dazwischen» verbleiben. Mögen wir den Mut haben uns einzusetzen für die Menschen am Rande der Gesellschaft und so die soeben erwähnten Begriffe Solidarität, Teilen und Verantwortung umzusetzen.

 

Fratelli Tutti war ein weiteres Schlüsselwort im Jahre 2020. Es wurde uns von Papst Franziskus geschenkt. Eine der zentralen Aussagen dieses Textes, die wie ein Refrain immer wieder auftaucht, lautet: Niemand rettet sich selbst! Alle Menschen, Fratelli Tutti, sind zu einer Geschwisterlichkeit eingeladen, die uns miteinander verbindet. Es ist eine Geschwisterlichkeit, die auf dem Recht eines jeden Menschen beruht, bis an sein Ende in Würde zu leben und sich frei zu entfalten. Ich hoffe, dass diese Sozialenzyklika unser Handeln anregt in einer Zeit, die sich verändert hat und nicht mehr so ist, wie sie einmal war. «Wenn wir Geschwister wären, dann würden wir uns als solche lieben. Aber können wir das Leben lieben, es um jeden Preis lieben, ohne Verletzungen zu erleiden? Verletzungen sind vielleicht notwendig, damit wir fähig werden Brüche im Leben einzuüben und uns auf den endgültigen Bruch unseres Lebens vorzubereiten. In dieser Zuversicht für die Zukunft, die ich mit Ihnen, Herr Präsident, und sicher auch mit vielen Bewohnerinnen und Bewohnern unseres geliebten Landes teile, wünsche ich Ihnen allen ein gutes und heiliges Jahr 2021.

 

+ Jean-Marie Lovey

Bischof von Sitten

[1] Paul Baudiquey in : http://www.philosophie-poeme.com/qui-serions-nous-sans-nos-blessures-a121030784

Neujahrswünsche 2021 des Präsidenten des Walliser Staatsrates, Herrn Christophe Darbellay