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Wenn der Mensch sich hinterfragen lässt und zum Fragenden wird

 

 

Die Welle der Pandemie wird nicht einfach alles mitreissen, was sich ihr in den Weg stellt. Sie wird weiterhin Menschenleben fordern und das nach Meinung der Experten in den kommenden Tagen noch in zunehmender Zahl. Sie wird ganze Bereiche der Wirtschaft, des familiären und gesellschaftlichen Zusammenlebens erfassen. So wie das Virus den Geruchs- und Geschmackssinn angreift, kann es vielleicht auch dazu führen, dass wir den guten Geschmack für die Kultur, für Freizeitaktivitäten, für den Menschen und für das Leben an sich verlieren. Tatsache bleibt, dass unser Leben eine spirituelle Dimension aufweist, die vom Virus nicht angegriffen werden kann. Es geht um ein geistliches Leben, das zum Menschen gehört – das ist das Markenzeichen des Christentums – und das unter den gegebenen Bedingungen im Hier und Jetzt gelebt werden will. Damit sich dieses geistliche Leben nähren und entwickeln kann, ist es notwendig, dass auch alle anderen Bereiche, die den wahren Wert eines menschlichen Lebens ausmachen, bestehen bleiben. Die Gesundheitsexperten und die politischen Behörden sehen sich veranlasst alles Mögliche zu tun, um das, was dem Virus ausgesetzt ist, zu schützen. Ich habe bereits mehrmals mein Bedauern darüber ausgedrückt, dass die menschliche Person nicht in allen ihren Dimensionen, insbesondere der geistlichen, ernst genommen wird. Die Kraft des Mutes und der Hoffnung, die das Walliser Volk aus seinem christlichen Glauben schöpft, darf im Kampf gegen alle Arten des Bösen nicht vernachlässigt werden. Dazu gehört auch der Kampf gegen COVID-19.

 

Ich brauche diese lange Einleitung um folgendes zu betonen:

 

  1. Die Nächstenliebe steht weiterhin an erster Stelle. Im jetzigen Zusammenhang besteht sie darin, die Übertragung des Virus um jeden Preis zu vermeiden. Sie zeigt uns einen Weg der Zusammenarbeit mit den Behörden, die schwierige Entscheidungen zu treffen haben. Sie fordert die getroffenen Massnahmen zu befolgen, wenn das Feuer wütet.

 

  1. In der laufenden Diskussion betone ich erneut, wie wichtig es für praktizierende Christen ist, ihren Glauben zum Ausdruck bringen zu können. Deshalb betone ich auch den Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Die Kirchen haben in dieser Hinsicht bereits einen Beweis erbracht. Sie haben in der ersten Zeit von COVID-19 die verlangten Standards gewissenhaft umgesetzt: Desinfektion der Hände, Maskenpflicht, Distanzregeln. Diese Standards sind in einer Kirche wesentlich einfacher umzusetzen als an anderen Orten.

 

 

  1. Die Petition, die zurzeit im Umlauf ist um „eine Ausnahme von der Regel der Zahl der zugelassenen Personen“ zu fordern, hebt den wichtigen Platz hervor, den das geistliche Leben für viele Walliser hat. Dieses Leben kommt insbesondere durch die Teilnahme an der Messe zum Ausdruck. Jeder einzelne Getaufte ist Mitglied der Kirche. Es ist gut, dass die Kirche, durch die Stimme ihrer lebendigen Glieder gehört wird.

So wurde für die Feier von Beerdigungen bereits eine Ausnahme von der Regel gestattet: 30 Personen sind zugelassen.

 

  1. Wir hoffen sehr, dass die Entwicklung der Pandemie eine günstige sein wird. Wir werden alles daran setzen zu einer Situation, wie sie vor der Pandemie existiert hat, zurückzukehren und die Pflicht Distanz zu halten zu beenden. Mit Ihnen bete ich, dass Gott uns helfen möge, dieses Übel vom Angesicht der Erde verschwinden zu lassen.

 

  1. Diese Pandemie stellt viele Bereiche unseres Lebens, insbesondere das geistliche Leben in Frage. Neben der Teilnahme an der Messe, die im Moment nicht möglich ist, haben Christen und Christinnen das Recht sich nähren zu lassen. Ich ermutige Seelsorger und Seelsorgerinnen neue Wege zu gehen: Hausbesuche; Kommunion mit oder ohne Eucharistiefeier in Quartieren, Wohnhäusern oder bei Familien; Gebet; Lesen und Meditieren des Wortes Gotts in der Familie auch ohne Anwesenheit eines Priesters; Rosenkranzgebet in Kleingruppen. Bewahren wir unser Beziehungsnetz mit Hilfe der verschiedenen Kommunikationsmittel. Und wie steht es mit der Solidarität mit all denen, die von den Folgen der Pandemie am stärksten betroffen sind? Lassen Sie uns im Rahmen der uns auferlegten Massnahmen erfinderisch sein. In Anlehnung an die jüngste Enzyklika von Papst Franziskus sollten wir seine Überzeugung in Bezug auf die Pandemie zur Kenntnis nehmen: Niemand rettet sich allein!

 

In Gedanken und im Gebet tief und herzlich mit Ihnen verbunden

 

Sitten, 27. Oktober 2020

 

 

+ Jean-Marie Lovey
Bischof von Sitten